Dunkle Motive schlummern in jedem von uns. Manche Lebenssituationen können sie ans Tageslicht bringen. Ob unsere Kultur sie bändigen kann?
Es scheint ein Kind der mächtigen Naturwissenschaft: das Suchen der Ursachen für das Böse in psychischer Krankheit. So wundert es nicht, dass uns der große Antipode des Guten nur noch in einer kränkelnden Form erscheint, aber Schwäche ist sicher die falsche Unterstellung. Vor nicht allzu langer Zeit sprach man beim Guten noch von Fruchtbarkeit oder Eros. Damit hatte der denkende Mensch noch so gerade eben beschreiben dürfen, was das Individuum zum anderen treibt, ohne ein Tabu zu brechen. Die Romantik trieb diese Hinwendung zum anderen in sakrale Höhen…
Weit vor der christlichen Teilung der Welt in Gutes und Böses lag das Tabu. Es war die höchste Form des ungeschriebenen Gesetzes. Es war sprach- und mundlos. Schon an den Höhlenmalereien des Jung-Paläolithikums können wir erkennen, dass ein Bewusstsein des Todes und die überwältigende Kraft der Sexualität in künstlerischer Aktion manifestiert wurden. Später im Christentum wird dies zum Begriff des Diabolischen zusammen gedacht und mit Verboten belegt. Immer wieder bricht jedoch diese enge kulturelle Bindung zwischen der Kraft des Erotischen und dem Vergehen im Tod auf. In allen Kulturen werden Tabus errichtet, um sie zu bändigen.
Mit den monotheistischen Religionen erfahren die Menschen am Ende der Antike eine Vereinfachung des Alltags. Feste Rituale, die nur auf einen einzigen Gott bezogen werden, erleichtern das Leben und das Einordnen überwältigender Erfahrungen in Abseitiges, Schmutziges und Unreines. Die Zeit der mühseligen Arbeit beginnt auf den Schultern des Einzelnen zu lasten.
Doch die moderne Zeit setzt das Individuum an die Stelle des einen Gottes und wirft dem Einzelnen damit den Fehdehandschuh hin. Denn nun muss er oder sie sich selbst mit der Gemeinschaft auseinandersetzen. Die Feudalherrschaft teilt die Menschen von Geburt an in freie und unfreie Teilnehmer am kulturellen Leben ein. Die tägliche Pflicht und Arbeit entfernt laut dem französischen Philosophen Georges Bataille den Menschen von der Kraft die aus dem sexuellen Bereich ins Leben einwirkt. In der Folge fokussieren wir uns immer mehr an zweckorientiertem Denken. Das Suchen und Finden eines Partners bleibt als einzige Kraft, das zweckdienliche Leben und das beladene Ich in einem Akt zu überwinden. Doch genau das wird von der christlichen Religion immer weiter ausgegrenzt. Übrig bleibt ein einsames Ich, dass sich nicht ohne Scham dem anderen Geschlecht nähern kann.
Das Herstellen von Werkzeugen und Waffen tritt früh an die Stelle der reinen Instinkte. Es gab bis in unsere Zeit Urvölker, die den genauen Zusammenhang zwischen Wollust und der Geburt von Kindern nicht kannten. Aber sie waren in der Lage, für die täglichen Verrichtungen Hilfen zu erstellen. Mit diesen Geräten konnten sie besser jagen, Früchte sammeln und Getreide anbauen. Das führte zur Speicherung von Nahrungsmitteln. Dieser Überfluss erlaubte es den Menschen in Muße nachzudenken und die Anfänge der Wissenschaft zu kreieren. Vor allem aber rief das angehäufte Vermögen an Nahrung den Neid von Menschen auf den Plan, die sich statt mit Werkzeugen zum Getreideanbau mit Werkzeugen der Kriegskunst auskannten.
Diese Art der Beschaffung von Nahrungsmitteln wurde schnell um das Erobern von Territorien erweitert. Später kam das Erobern von Menschen hinzu: die Sklaverei und mit ihr die Prostitution. Da Krieg als Arbeit galt, wurden besonders fleißige Kriegsarbeiter mit Frauen belohnt. Der deutsche Philosoph Hegel bezeichnet den Sklaven als der Archetypus des fleißigen Menschen und präsentiert ihn damit als die historische Ursache unseres heutigen materiellen Wohlstandes.
Aber manchmal passiert es heutzutage Menschen, dass jemand schon qua Geburt zu Wohlstand gelangt. Dann ist er gar nicht mehr in der Position sich Kraft der eigene Fähigkeiten Territorium, Nahrung und Partner für die Liebe zu verschaffen. Seit dem Siegeszug des fleißigen Sklaven ist der Krieger fast überflüssig. Aber in ihm hebt die Kultur noch immer die diabolische Verbindung zwischen Tod und Eros auf. Leider hatte die christliche Religion die körperliche Liebe mit einem Verbot belegt. Damit erhält die natürlichste Sache der Welt einen sakralen Schein. Bataille schreibt: „Das Verbot überträgt seinen Eigenwert auf den betroffenen Gegenstand.“ Wenn nun ein männlicher Mensch mit einem geringen Wertbewusstsein seines Ichs, also wenig Anerkennung im Leben, eine unerreichbare, und durch das Verbot überhöhte Frau erlebt, die einfach nur ein normaler selbstbewusster Mensch ist, dann kann er eine tiefe Kränkung erleben. Er wird eine Weile versuchen, mit Fleiß und zweckorientiertem Denken Eintritt in die Gemeinschaft zu erhalten. Aber dort herrscht nicht die Kraft, die von der sexuellen Aktivität ausgeht. Dort herrscht nur der blanke Zweck, das Totem des Pragmatismus in Gestalt der beruflichen Bildung.
Gelingt es ihm nicht an seine natürliche menschliche und gemeine Quelle zu kommen. Dann tobt das Individuum bis zur Raserei des Zwecks. Jeder halbwegs zweckdienliche Gedanke wird zum Sakralen erhoben. So kann es für die einsame Seele zumindest eine kleine Vereinigung in der Klausur geben. Aber im Inneren pocht die Seele beständig an die Tür des Bewusstseins und verlangt Einlass in die Welt.
Der letzte rettende Gedanke ist, einfach die Welt zu zerstören, damit es außen genauso einsam aussieht, wie es sich innen anfühlt.
Die Frage bleibt, ob es sinnvoll ist, den Zweck über alles zu stellen und das Einzige was wir erleben können, um das Projekt Individuum zeitweise zu vergessen – die sexuelle Vereinigung – so scheinheilig auf Plakate zu kleben oder in die heiligsten Hallen der Religionen zu sperren. Die Aufklärung ist vorbei, es wird Zeit, Natur und Kultur lebendig zu vereinen.
Ein erster Schritt könnte darin liegen, uns selbst zu beobachten. Was tun wir der jungen Generation an, wenn wir sie einschwören auf eine unbedingte Nutzbarkeit im Berufsleben oder als Sexobjekt? Was ist der tiefere Sinn einer jugendlichen Scheinoffensive, um dem Arbeitgeber zu vermelden, dass Altersweisheit neuerdings ohne Falten erreichbar ist. Ist es wirklich schlau, das Individuum, das ehemals die Macht der Kirchen brach, jetzt zu degradieren zu einem ziellos umherirrenden Konsumkasper?
Wir sollten dem Attentäter in uns helfen. Dann helfen wir auch den Opfern der Zukunft. Denn dann werden sie immer weniger.
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